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15. Dezember 2018

Weihnachtsbaum

 

 
Weihnachtswunder

 

Ich bin neun Jahre alt, ein aufgeschossenes, ernsthaftes Kind, die Älteste von fünf Geschwistern. Meine Familie wohnt auf einem Bauernhof, wir sind eine große Gemeinschaft: Eltern, Kinder, die Großeltern und ein Angestellter.

 

Weihnachten steht vor der Tür, wir Kinder freuen uns natürlich sehr und haben so unsere kleinen Geheimnisse, denn das Geschenkebasteln gehört bei uns zum Advent. 

 

Auf dem Kleiderschrank im Elternschlafzimmer türmen sich geheimnisvolle Schachteln und Tüten, und die Großeltern wollen mit behutsamen Fragen unsere Wünsche ergründen. 

 

Ich liebe die Vorweihnachtszeit, und beim Fensterläden schließen gucke ich in den klaren Nachthimmel und mir scheint, ich hätte dort das  Christkind in einem Lichtschweif vorbeiziehen sehen. Aus vollem Herzen sage ich unter der warmen Bettdecke mein Abendgebet und stelle mir vor, wie auch im Himmel der Geburtstag des Herrn Jesus vorbereitet wird. Wie muss es da erst glänzen und duften, wenn schon hier auf der Erde unser Weihnachtstag so viel Freude und Seligkeit bringt! Natürlich weiß ich schon, dass nicht das Christkind unseren Weihnachtsbaum bringt, doch wie das zugehen soll, dass er dann am Weihnachtsmorgen so himmlisch schön in unserer Stube stehen wird, das kann ich mir nicht richtig vorstellen. 

 

Heiligabend ist angebrochen, nach der Schule gibt es noch allerlei zu tun. Meine Aufgabe ist es, die Schuhe der ganzen Famillie zu putzen. Dazu stelle ich sie schön geordnet auf die Treppe zum ersten Stock. Erst muss der grobe Schmutz weg, was sich nicht mit der Bürste entfernen lässt, muss abgewaschen werden. Anschließend kommt die Schuhwichse zum Einsatz. Die Mutter hat mir eingebläut, dass ich immer die helleren Schuhe zuerst zu wichsen habe, und zum Schluss kommen dann die schwarzen an die Reihe. Wenn ich durch bin mit Wichsen, kann ich bei den ersten Schuhen mit dem Glänzen beginnen. Die weiche Bürste gleitet rasch und gut über die Schuhe und verleiht ihnen einen wunderbaren Glanz. So, geschafft! Jetzt hat die ganze Familie für morgen saubere Schuhe zum Anziehen! Rasch ins Gestell einordnen und dann in die Küche zum Nachtessen.

 

Meine Geschwister sind alle schon gebadet und sitzen mit feuchten Haaren am Tisch. Es gibt Spiegeleier, was wir alle sehr lieben, und nach dem Essen geht es ins Bett. Jedes holt sich einen heissen Kirschkernsack aus dem Ofenrohr und ab geht die Post, ins obere Stockwerk, wo noch lange das Trippeln von nackten Füßen und das Kichern der Geschwister zu hören ist. 

Nun kann ich auch baden. Wie ich im Pyjama in die Küche komme um die Haare zu trocknen, sagt meine Mutter:"Hör mal, meine Große , wenn du noch nicht zu müde bist, darfst du mir heute Abend helfen, den Weihnachtsbaum zu schmücken."

 

Natürlich binn ich nicht müde, im Gegenteil! Mutter holt die Schachteln mit dem Weihnachtsschmuck und den Kerzenhaltern vom Estrich, während mein Vater im Schopf den Tannenbaum in den Halter einpasst. Ich erschrecke fast ein wenig, als er ihn mit dem Ständer voran in die Stube trägt! Der Baum sieht so gewöhnlich aus, eine Tanne eben, eine kleine zwar, aber doch nicht viel anders als die, die im Wald für Brennholz geschlagen werden. Nun kommt Mutter mit den Schachteln, die Kugeln sehen etwas verstaubt aus, und die Ketten sind eher schäbig, wie sie da auf einem Haufen liegen.Die Lametta ist zu einem Zopf zusammengedreht, und glimmt nur schwach, wenn das Lampenlicht darauf fällt. Ich darf als erstes die Kerzen in die Kerzenhalter stecken. Rote neue Kerzen, aber so alltäglich, wie die Kerzen, die man braucht, wenn man im Keller etwas suchen muss. Inzwischen hat die Mutter mit dem Schmücken angefangen und ich darf ihr die Kugeln, Vöglein, Kerzen und Ketten reichen. Normalerweise freue ich mich, wenn mich Mutter "meine Grosse"nennt, und mir eine besonders Aufgabe überträgt. Doch heute Abend will die Freude nicht kommen. In meinem Kopf ist es leer; so also kommt der Weihnachtsbaum in unsere Stube -  so simpel, so gewöhnlich. Wo bleibt das Geheimnisvolle, das Überirdsche, das mich so begeistert hat? Es kommt mir vor, als hätte mir jemand meine ganze Weihnachtsfreude zerschlagen.

 

Das ändert sich auch nicht, als ich noch helfen darf, die schön verpackten Geschenke unter den Baum zu legen. Nicht einmal neugierig bin ich, was sich darin versteckt. Im Bett liege ich lange wach. Trotz Steinsack ist  mir kalt. Auch mein Abendgebet ist nicht mehr was es war. Ist es so, wenn man "gross" wird? Weiss man dann bei allem, was dahinter steckt? Möchte ich in diesem Fall wirklich gross werden? Endlich fliessen heisse Tränen und ich weine mein Kissen nass bis ich schließlich erschöpft einschlafe. 

 

Der Weihnachtsmorgen ist da. Nach dem Frühstück kommt der große Moment. Die ganze Familie ist versammelt, nur Mutti ist plötzlich verschwunden. Doch, was ist das? Ein feines Läuten dringt durch die geschlossene Tür! "Das Weihnachtskind, das Weihnachtskind" schreien meine Geschwister begeistert. Und dann geht die Türe auf - da steht er der Baum, genauso schön und so zauberhaft und überirdisch wie im letzten Jahr! Ich schlucke zweimal leer - und dann fühle ich sie wieder, meine unbändige Weihnachtsfreude! Und sie ist kein bisschen geringer, weil meine Mutter selber dieses Wunder vollbracht hat und keine Engel im Spiel waren! Sie liegt tiefer, die Freude, ich ahne, dass dieses Licht das Leben verändern kann. 

 

Inzwischen habe ich schon viele Weihnachten erlebt, schöne und schwere. Doch in meinem Herzen, ganz tief drinnen, steckt immer noch das kleine Mädchen von damals mit dem festen Glauben an das wirkliche Weihnachtswunder!

 

Auszug aus "Wie in einer Muschel" von Hildy Haas-Graf

Danke, Hildy!